Der böse Zwilling – Verschwörungstheorien“ als Simulacren des Mainstreams
Es folgt in der Regel eine leichtfüßige Aburteilung der absurdesten Gedankenkonstruktionen im Namen einer oft selbst nicht verstandenen Wissenschaftlichkeit. Er zeigt an, daß man hier gern so wie die nun omnipräsenten Virologen und Epidemologen Reproduktionszahlen zur Verbreitung dieser geistigen bzw. politischen Krankheit vortragen würde, ohne auch nur eine Minute auf die Reflexion des Begriffes „Verschwörungstheorie“ an sich, oder was alles darunter fällt, aufzuwenden. Der Begriff allein soll schon Bilder evozieren, von aluhuttragenden Schreihälsen, die, durch kein rationales Argument mehr zugänglich, im Internet und vermehrt auch in den Straßen ihre Wahnvorstellungen verbreiten.
So lächerlich ihre Theorien auch scheinen mögen – oder im Sinne des Strohmannarguments durch Unterschieben eigenwilliger Interpretationen und Übertreibungen gemacht werden – darf natürlich auch ihre Gefährlichkeit nicht unterschlagen werden. Denn wo Pathologisierung herrscht, ist die Kriminalisierung nicht weit. „Verschwörungstheorien gefährden die Demokratie“ lautet der einhellige Tenor unzähliger „Experten“. Und folgerichtig sollen wieder mal zum Schutz der Demokratie ihre eigenen Grundlagen beschnitten werden. „Verschwörungstheorie“ ist dabei neben dem „Haß“ einer von jenen vagen Kampfbegriffen, der jede weitere Diskussion erübrigen soll. Diese bieten den Vorteil, auch legitime Kritik an vorherrschenden Paradigmen diskursiv abzuriegeln, indem sie mit wirren Hirngespinsten in eine Kategorie gepreßt werden. Kaum je wird der Begriff in den etablierten Medien kritisch behandelt oder nach den tieferen Ursachen für die derzeitige „Hochkonjunktur“ gefragt. Sie käme quasi aus dem Nichts, hätten auch nichts mit der Realität zu tun und schon gar nicht stünden sie auch nur irgendwie im Verhältnis mit den Denk- und Handlungsweisen dieser „Experten“. Die Vehemenz mit der vor ihnen gewarnt wird und mit der sie auch bekämpft werden sollen, weist jedoch auf etwas anderes hin.
Ursachenforschung
Dabei gäbe es für die Erforschung der Wurzeln einige äußerst interessante Ansätze. So hat der schweizer Psychiater und Freud-Schüler C. G. Jung in den 1950er Jahren das Phänomen der UFO-Sichtungen aus einer tiefenpsychologischen Perspektive beschrieben und deren Bedeutung im Kontext der kritischen geopolitischen Verhältnisse zu jener Zeit analysiert. Ohne sich auf ein banales Verständnis von Wissenschaft zu berufen und sich dem einfachen aber einträglichen Geschäft der Pathologisierung hinzugeben, erforschte er die Auswirkungen des unausweichlichen Atomzeitalters und dessen gewaltigen Vernichtungspotentials auf das kollektive Unbewußte. Das UFO-Phänomen erschien in diesem Licht als massenhaft auftretende Projektion von unbewußten Wünschen und Ängsten in den Himmel, von wo die Erlösung aus der Ausweglosigkeit kommen soll. Er verglich es mit religiösen Kollektivvisionen, zum Beispiel der Kreuzfahrer bei der Belagerung Jerusalems oder der gläubigen Volksmenge von Fatima.
Auch heute könnte man nach den tieferen Ursachen für solche Kollektivvorstellungen fragen. Ein Zusammenhang zwischen dem in vielen „Verschwörungstheorien“ vorkommenden Motiv der von dunklen Eliten geplanten Bevölkerungsreduktion mit einem allgemeinen Gefühl der totalen Ersetzbarkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Der mit der Coronakrise einhergehende Kontrollverlust und die fast widerstandslose Einschränkung der Bürgerrechte sind sicher besser mental zu erfassen, wenn ein personales Feindbild (z.B. Bill Gates) verfügbar ist. Die Sehnsucht nach Mythen bleibt auch in einer komplexen postmodernen Gesellschaft, der evolutionär geformte, tribalistische Denkschemata kaum noch gerecht werden, lebendig. In einer Werteordnung, wo flache und vage Verfahrensregeln wie „Toleranz“ und „Gleichberechtigung“ ganz oben stehen und der Mensch dahinter nur als hedonistisches Konsumvieh bleibt, wird diese sicher nicht befriedigt.
Auch das Bedürfnis nach Selbsterhöhung durch ein vermeintlich tieferes Wissen „was bzw. wer dahinter steckt“ erhöht sich in einer Zeit, in der man schmerzlich vor Augen geführt bekommt, daß man nämlich nicht zu den „Systemrelevanten“ gehört und ohne größere Auswirkungen von heute auf morgen seine Arbeit einstellen kann. Stattdessen gehören dazu staatlich finanzierte „Experten“, die in Coronazeit-typischen Streams vor glücklich platzierten Bücherwänden zugeschaltet werden, um uns daheimbleibenden Überflüssigen zu erklären, was wir zu glauben und wie wir lieber nicht zu denken haben.
Die Annahme, daß hinter ihrer stereotypen Sprache, den unhinterfragbaren Selbstverständlichkeiten und der Einigkeit der Analyse eine durchgeplante Verschwörung steckt, ist für den durchschnittlichen Rezipienten naheliegender, als die Rückführung auf eine abstrakte Medienlogik, die sog. Fast Thinkers und deren Flachheit nun mal bevorzugt. Wer kann es ihnen verdenken, daß sie angesichts dessen und der neuen Möglichkeiten durch die sozialen Medien (jeder wird zum Sender) glauben, sich quasi selbst zum Experten machen zu können und jene Zusammenhänge zu kommunizieren, die für sie plausibel erscheinen?
Expertendämmerung
Man kann von derartigen Deutungsmodellen halten was man will, die etablierten Experten vermeiden es tunlichst, sich auf eine solche Ebene der Analyse im größeren Kontext zu begeben. Und das auch aus gutem Grund. Sie könnten dadurch darauf aufmerksam werden, daß ihr eigenes Handeln wohl doch etwas mit dem vermehrten Aufkommen der „Verschwörungstheorien“ zu tun hat und – noch schlimmer – ihre eigenen Denkmuster denen der von ihnen so verachteten „Verschwörungstheoretiker“ gar nicht so unähnlich sind.
Das zeigt uns ein Blick auf die Mechanismen, mit der diese selbst auf Kontrollverluste reagieren: Als Donald Trump entgegen aller Erwartung und auch Bemühungen es zu verhindern zum Präsidenten der USA gewählt wurde, verbreitete sich allerorts die bis heute unbestätigte Theorie der russischen Bots. Zur Zeit der Migrationskrise, als sich ein Großteil der Bevölkerung von der mit allem Nachdruck propagierten Willkommenskultur abwendete, sahen sich die etablierten Experten plötzlich von einer Welle des irrationalen „Hasses“ überrollt, die quasi aus dem Nichts kam. Speziell in Österreich wird Wahlsiegern der FPÖ gerne die Anwendung von NLP-Techniken, die in ihren Augen wohl so etwas wie Zauberformeln darstellen, unterstellt, um sich nicht mit den eigenen Schwächen auseinandersetzen zu müssen. Solche flachen Erklärungsmodelle dienen vor allem dazu, das fragil gewordene Selbstbild vor einem mit größter Wahrscheinlichkeit schmerzhaften Reflexionsprozeß zu schützen und unterscheiden sich höchstens in Äußerlichkeiten von den so abstrusen „Verschwörungstheorien“. Nicht zuletzt ist auch der Begriff der „Verschwörungstheorie“ selbst eine solche Projektionsoberfläche für die Angst vor dem Verlust der Deutungshoheit und damit des eigenen Selbstwertes.
Quasi spiegelbildlich projizieren beide Seiten die eigenen unbewußten Ängste auf sich gegenseitig bzw. bewerfen sich mit denselben Anschuldigungen (Panikmache, Käuflichkeit, Ignoranz gegenüber den Wissenschaften etc.). In punkto Reflexionslosigkeit nehmen sie sich nicht viel. Epistemologischen Problemen wird mit Wunschdenken, Scheinplausibilitäten und Polemik begegnet. Nur einer Seite würde aber die tiefgreifende Reflexion qua Selbstanspruch als Kernaufgabe zufallen. Jedoch führt die beschriebene Medienlogik im Zusammenspiel mit einer allgemeinen Abschottung des Milieus der Experten zu einer Negativauslese, in der Reflexion eher einen Wettbewerbsnachteil darstellt. Ob die gegenwärtigen Verwerfungen und die daraus resultierende Verknappung der Ressourcen hier zu einem Paradigmenwechsel führen, bleibt abzuwarten.
Autor:
Fabio Witzeling
Soziologe
Forschungsschwerpunkte:
Werte und Einstellungen, Ideologieforschung, politische Institutionen, Wettbewerb und Strategien