Zur geistigen Entwaffnung
Unabhängig von parteipolitischer Präferenz, lässt sich in Wahlkampfzeiten eine Entwicklung beobachten, die schon derart gewohnt und in den polit-medialen Komplex internalisiert scheint, dass kaum noch jemand ihren undemokratischen Charakter wahrnimmt oder gar benennt.
Der größte Teil des Wahlkampfes spielt sich nurmehr auf persönlicher und somit auf boulevardesker Ebene ab. Wie narzisstisch ist dieser oder jener Politiker? Geht es ihm nur um Machterhalt? Tritt er nur aus gekränktem Stolz an? Ist er noch zu jung oder schon wieder zu alt? Auch wenn diese Fragen, welche medial auf- und abgespielt und von verschiedensten „Polit-Experten“ zerkaut werden, nicht einer gewissen Relevanz entbehren, so ist die übermäßige Konzentration auf diese Aspekte als Ausweichstrategie zu betrachten, um von grundsätzlicheren Fragen abzulenken.
Es mag die Frage nach der Bedeutung der neuen Brille von HC Strache sicher den Fetisch der genannten Experten befriedigen, in einer von visuellen Medien geprägten (und damit zwangsweise oberflächlicheren) Zeit, jedes Detail als Projektionsoberfläche zu nutzen, doch ist es sicherlich nicht im Sinne demokratischer Politik, wenn solche Themen, aufgrund einer allumfassenden Mittelmäßigkeit, wirklich relevante Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus dem politischen Diskurs drängen. Die Boulevardisierung der Politik, die oftmals unter dem Kunstbegriff „Politainment“ zusammengefasst wird, diente in den letzten Jahren dazu, in den Einheitsbrei der Parteien, die sich programmatisch immer weiter annäherten (vor allem die ehemaligen Volksparteien), eine gewisse Unterscheidbarkeit hineinzubringen. Also wenn schon in den relevanten politischen Fragen kein Blatt zwischen die systemtragenden Parteien passt, so sollten zumindest auf persönlicher Ebene gewisse Differenzen wenigstens ein wenig Spannung und Dynamik in die politischen Auseinandersetzungen bringen.
So wird die Politik immernoch zu einem Großteil in persönlichen Kategorien ausgetragen. Auch wenn sich aufgrund verschiedener krisenhafter Entwicklungen (Finanzkrise, Migrationskrise etc.) wieder gewisse Grundsatzfragen in den politischen Diskurs hineinreklamieren, so ist es immernoch der infantile Moralismus einer politisch-medialen Kaste der uns hindert diese Fragen demokratisch und lösungsorientiert zu behandeln. Kaum verlässt jemand den Konsens der für die meisten offensichtlich obsoleten und moralisch aufgeladenen Worthülsen von Vielfalt, Toleranz, Gleichheit etc., werden die üblichen Mechanismen der Denunzierung, Stigmatisierung und immer öfter sogar der Kriminalisierung in Gang gesetzt. Nicht die Ideen und Positionen der Person werden kritisch reflektiert (wofür nicht selten ohnehin die kognitive Kapazität fehlt), sondern die Person selbst als moralisch rückständig diffamiert und somit aus dem Diskurs ausgeschlossen.
Also bleibt man auch in Krisenzeiten lieber auf der Ebene der vagen Floskeln und substanzlosen Gesinnungsethik, um ja nicht Gefahr zu laufen als Unmensch und Unberührbarer zu Enden, zu dem schon der bloße öffentliche Kontakt ein Risiko für die eigene soziale Unversehrtheit darstellt. Die engen Grenzen des Konsenses sollen niemals in Frage gestellt werden. Auch nicht um den Preis, dass durch die fehlende wirkliche Opposition, die Politik zum Scheingefecht degeneriert und die Demokratie immer mehr ihre Legitimation verliert. Somit bleibt die politische Auseinandersetzung auf einer personalisierten, oberflächlichen und damit für den Status-Quo harmlosen Ebene. Diese geistige Entwaffnung von mündigen Bürgern unterläuft das Wesen der Politik an sich, weshalb in der soziologischen Fachliteratur schon seit Längerem von einer „Entpolitisierung der Politik“ die Rede ist.
So viel auch seit Jahren in politischen Sonntagsreden von „Vielfalt“ die Rede ist, so sehr wird ihre einzig relevante Form – die geistige Vielfalt – immer mehr beschnitten. Deshalb ist es notwendig für alle, die Meinungsfreiheit und Demokratie als erhaltenswerte Ideale ansehen, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wenn diese beschnitten werden, auch wenn man mit den betroffenen Personen nicht in jedem Punkt übereinstimmen mag, oder gar eine komplett gegensätzliche Position vertritt. Denn es ist bezeichnend, wie radikal die Worte Voltaires nach 250 Jahren für heutige Ohren abermals klingen: „Es ist klar, dass jeder, der einen Menschen, seinen Bruder, wegen dessen abweichender Meinung verfolgt, eine erbärmliche Kreatur ist.“
Autor:
Fabio Witzeling, MA
Soziologe
Forschungsschwerpunkte:
Werte und Einstellungen, Ideologieforschung, politische Institutionen, Wettbewerb und Strategien